Viel zu spät begreifen viele die versäumten Lebensziele: Freude, Schönheit der Natur, Gesundheit, Reisen und Kultur. Darum, Mensch, sei zeitig weise! Höchste Zeit ist's: Reise, reise! - Wilhelm Busch

Mittwoch, 24. August 2011

2. Tag Kemptner Hütte - Memminger Hütte

... oder: Das Fersen-Drama, II. Akt

Vor 6 Uhr ist schon Leben im Matratzenlager. Also raus aus den Federn, oder besser: dem Hüttenschlafsack und den Pferdedecken. Der Frühstücksraum ist proppevoll. Jeder bekommt das gleiche. Auf dem Teller zwei Scheiben Brot, Wurst, Marmelade, Käse und/oder ein Schüsselchen Müsli. Gut 9 Stunden stehen uns laut Wanderführer bevor, wollen wir alles laufen. Denn das Mittelstück durch's Lechtal schmähen mal wieder die meisten und setzen sich in Holzgau ins Taxi, das sie bis zur Materialseilbahn der Memminger Hütte bringt. Oder zumindest setzen sie sich in den Bus bis nach Bach am Anfang der Waldstraßen hinauf Richtung Bahn. Wir zumindest schlagen uns allein im Tal rum mit all den Pferdebremsen, die schneller beißen, als man draufpatschen kann. Zuvor aber geht es hinauf zum Mädelejoch, hinüber nach Österreich. Unsere Viereinhalb-Jährige hält noch tapfer mit und kraxelt wie ein Profi, nach dem Abschiedsbild auf dem Joch aber schlagen wir das Haimon-Tempo an und es geht im Sauseschritt ins Tal.


Das fordert Opfer. Haimon zwickt's im Knie - das erste und letzte Mal, denn seitdem hat er in seinen Wanderstöcken wahre stützende Freunde erkannt und piekst damit wahrscheinlich alle Krabbeltiere erbarmungslos schwungvoll auf, die sich in die Nähe verirren. Die, die überlebt haben, fallen wahrscheinlich mir zum Opfer, 100 Meter später. Meine Wehwehchen werden irgendwie nicht weniger. Die Fersen. Irgendwie scheinen die Blasen zu wachsen, statt sich langsam vom Pflaster einhüllen zu lassen. Die Pause mit Pumpernickel, frischen Knackern und Leitungswasser auf blumiger Wiese verschafft nur kurz Linderung, irgendwas stimmt nicht. Das Lechtal sammelt die Mittagswärme, wir kommen an Dörfchen vorbei und wähnen uns jedes Mal schon am Ziel in Bach. Irgendwann stehen wir dann im richtigen Ort. Vorm Supermarkt. Wollen Wasser. Doch der hat zu, Mittagspause. Zeit, sich mal meine Fersen anzuschauen. Es folgte die qualvollste halbe Stunde der Tour. Rechts war die Blase richtig groß und teils gerissen, das Blasenpflaster total verschoben. Links war es dagegen fast noch vernachlässigbar, dass die Blaseüber die Ränder des Pflasters lugte. Was tun? Hin und her und hin und her und schließlich im Zeitlupentempo das Pflaster rechts entfernen. Wasser zum Reinigen und Desinfektionsspray drauf, angeblich "schmerzfrei". Eine glatte Lüge. Zumindest, wenn es auf frische Haut trifft. Mir liefen die Tränen vor Wut und Schmerzen, ich konnte gar nicht aufschauen, um ja nicht die Baumwipfel auf den nahen Bergen zu sehen und die hoch aufstrebenden Felsen dahinter zu erahnen, dort, wo auf einmal in gefühlt unerreichbarer Ferne das Etappenziel lag, hoch oben auf 2.242 Metern. Dann fehlte uns auch noch Tape, Pflaster, um die Kompresse an der Ferse zu halten. Während ich mit nackten Füßen im Schatten auf der Bank vorm Spar wartete und vor mich hinschluchzte und schimpfte, beschwatzte der gute Haimon einen/eine Hotelangestellten, der ihm eine Rolle Hansaplast verkaufte. Denn im Ort gab es nichts außer dem Supermarkt. Fertig bandagiert humpelte ich in meinen Trekkingsandalen auf die nächste Restaurantterasse. Erstmal ein Radler, dann einen Salat und etwas Eis. Und das ließ den Trotz, der sich nach den Tränen einstellte, wachsen. So ein Scheißding von einer Blase versaut mir nicht die Tour, versaut mir nicht den Weg nach Italien. Dann halt ein bisschen Taxi und dann in Sandalen rauf und runter. Früher hatten sie auch keine Bergschuhe. Und Träger in Nepal schaffen es sogar in Flipflops. Meine Tevas sind Hightech. Kurz bevor das Linientaxi kommt, schlüpfen unsere zwei Bekannten aus einem Bus - so sieht man sich wieder. Noch eine Portion Mitleid abgeholt und los geht's. Mit einer Zittauer (oder Zwickauer?!) Familie im Auto, die wir abends auf der Hütte wiedersehen. Irgendwo ist immer einer aus dem Heimatländle unterwegs :-)

Ich schiele bergauf nach jedem Stein, versuche, fast auf Zehenspitzen oder zumindest den Fußballen zu gehen, hieve mich an den Stöcken hoch. Es funktioniert, kostet Nerven und Kraft, aber funktioniert. Mit jedem Höhenmeter wächst die Zuversicht. Ich lasse mich auf einen Stein zur Rast plumpsen, stehe aber ebenso schnell wieder auf, als ich ein Quietschen hinter mir höre und schon eine Ratten-Armada befürchte. Doch es ist nur eine Art Wiesel, was da hervorgehuscht kommt, mit einer frisch erlegten, noch jammernden Maus. Greifvögel rufen, Murmeltiere pfeifen, Wasserfälle rauschen, Flechten und harte Gräser lösen bunte Blumen und grüne Sträucher ab, selbst die verhutzelten, nicht mal hüfthohen Kiefern werden spärlicher, Felsen durchziehen die Landschaft. Es wird hochalpin...


Da hinauf geht es morgen...


Die Memminger Hütte ist voll, doch weitaus gemütlicher als die Kemptner. Nur nicht die Dusche. Die bleibt eiskalt. Dafür ist der Gästeraum schön warm, altbekannte Gesichter sind auch da, nach einem Radler habe ich rote Bäckchen, nach Nudeln und Kaiserschmarrn schlaf ich fast am Tisch ein. Gegen neun liegen wir denn auch schon eng an eng im Lager, jeder hat vielleicht 70cm Breite Platz, ich kraule an Haimons Schulter herum, bis ich mal merke, dass es gar nicht seine, sondern die des Nachbarn ist. Der schläft aber Gott sei Dank schon. Und pupsen muss diese Nacht auch niemand.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen